Filmkritik: Verlorene Illusionen
Von Niklas Lotz
Verbotene Liebe – Xavier Gianollis Illusions perdues

Es ist damals. Edle Herren mit unedlen Absichten gehen auf Brautwerbung, Damen in herrlichen Toiletten tanzen durch prunkvolle Ballsäle. Champagner fließt hier en masse – unter diesem historisierenden Banner stehen aktuell so einige Filme und Serien, wenige davon sind erfrischend. Xavier Gianollis Illusions perdues ist gewissermaßen das französische Kind dieses Hypes um Period-Drama. Er entführt ins Paris des 19. Jahrhunderts, in die Zeit der Restauration, in der Liberale und Royalisten ordentlich Zank haben und in der alles nach Geld und Geltung strebt. Mit Honoré de Balzacs Verlorene Illusionen hat man sich nicht nur eine renommierte Vorlage ausgesucht, sondern sich auch vor eine ambitionierte Aufgabe gestellt: Der Roman umspannt drei Teile auf (je nach Ausgabe) locker über 800 Seiten. Und das Vorhaben geht erstaunlich gut auf.
Alles mit Klasse
Der charismatische Benjamin Voisin, der für seine Vorstellung bei den Césars zum besten Nachwuchs gekürt wurde, gibt in der Adaption den Provinzpoeten Lucien. Seine Darstellung ist sublim, die Formel nicht neu: Auf der Suche nach dem Schönen in der Welt findet ein Jüngling die Poesie und Frauen. Vor allem eine Frau des alten Adels, Louise. Die Gönnerin nimmt ihn mit in die französische Hauptstadt, der Konflikt ist vorprogrammiert. So eine Liebe darf nicht sein.
Die sozialen Grenzen dieses Paris wirken jedoch nie flach, sondern werden insbesondere durch den Dialog, der meist selbst wie Poesie daherkommt, gekonnt eindrücklich inszeniert. Lucien schwimmt zwischen beiden Klassen und bereits in ihm ist der Klassismus angelegt: Wie ein Illusionist wechselt er zwischen seinem bürgerlichen Namen Chardon und dem adligen Mädchennamen der Mutter, de Rubempré. Wie ein Blender verfällt er der Pariser Upper Class, die ihn fallen sehen will.
Der Tratschkönig im Land der Unwahrheiten
Einmal vom Adel vor die Tür gesetzt, kommt Lucien vom Weg der Kunst ab und landet bei der Klatschpresse. Reißerisch und böse schreibt er gegen seine persönlichen Windmühlen an, wenn die Royalen ihn nicht als Freund wollen, kriegen sie ihn als Feind. Das Ganze geht auch auf Kosten seiner Ideale: Was vorher Liebe und Kunst für Lucien war, wird Rache und Umsatz, das Geld diktiert seine Kritiken. In Zeiten von Fake News ist das die wohl erschreckendste Parallele zum Heute, ein aktuelles Problem im Kostüm der Historie.
Zuweilen geht es aber dennoch herrlich absurd her: Der Buchverleger ist Analphabet, in den Zeitungshäusern urteilen Äffchen über gute und schlechte Literatur, für die Varietés werden Maschinen gebaut, die Klatschen und Buhrufe imitieren. Alles ist ein Trugbild, nichts mehr echt und Wahrheit der wohl größte, käufliche Schein. Der verschiedene Jean-François Stévenin verkörpert diese Skurrilität in der sonderlichen Figur des Singali, dem Dirigenten einer Gruppe Claqueure.
Solch Handel mit der Wahrheit scheint recht lukrativ: In einer bildgewaltigen Szene stolziert Lucien durch goldglänzenden Glitterregen und verteilt als selbstgekrönter Journalistenadel Zeitungen an die vornehme Feiergesellschaft in seinem Haus. Das ist ein starkes Bild seines Strebens nach Geltung, aber auch der ihm anheimfallenden Illusion, dass er durch den ausschweifenden Habitus eines Parvenüs die Akzeptanz der Royalen finden würde. Weil mit anamorphen Linsen gedreht wurde, ist das Bild den gesamten Film über zu den Rändern hin leicht verzerrt, was dem Ganzen eine ganz eigene Qualität gibt. Fast, als würde man die von Christophe Beaucarne (Kamera) so fabelhaft und akribisch eingefangenen Szenen durch eine Glaskugel sehen, als wäre alles selbst Illusion.
L’amour nicht toujours
In der Welt der Illusions perdues scheint das einzig Gute die Liebe zu sein. Einmal beim Techtelmechtel über die Wiese rollen muss reichen, um die große Liebe zwischen Lucien und Louise zu beschwören – irgendwo müssen bei der Adaption eines mehrteiligen Romans Abstriche gemacht werden. Aber immer, wenn sich Lucien der Schriftstellerei hingibt, dann schreibt er gleichsam für eine Frau. Am Ende geht dann alles schnell, ein Märchen wird es nicht. Alles, auch die Liebe, muss scheitern, selbst das Geld kann nicht vor der Krise bewahren. Nicht einmal die eigene Lebensgeschichte bleibt Lucien – sie wird von einem anderen geschrieben und erzählt.