Filmkritik: The Emigrants
Von Nele Dingler
„Will we inhabit this country? Or will this country inhabit us?“ An die Aushandlung dieser und vieler weiterer Fragen wagt sich der Film The Emigrants (Schweden 2021. Erik Poppe.), der auf dem Roman von Vilhelm Moberg basiert.

Schweden 1849: Kristina und Karl Oskar sind ein glückliches Ehepaar und Eltern dreier Kinder, welche sie allerdings nur mit Müh und Not von dem ernähren können, was Karl Oskar auf dem unfruchtbaren Boden in Schweden anbaut. Ihre Armut zwingt sie dazu, über eine Migration ins verheißungsvolle Amerika nachzudenken. In der ersten Szene ist die Entscheidung bereits getroffen und wir sehen den Beginn der Fahrt ins Ungewisse. Die Darstellung der beschwerlichen Reise wird immer wieder von Szenen unterbrochen, die als Erinnerungsfetzen der Protagonistin sowohl ihr Leben in Schweden zeigen als auch die Ereignisse, die zum Verlassen des geliebten Heimatlandes geführt haben. Diese Zeitsprünge, die teils wacklige Kameraführung und die verschwommenen Bilder unterstreichen die unentwegte Beschäftigung und das Hadern mit der Entscheidung. Gerade die Einstellungen, in denen Kristinas Kopf und Stirn so nah vor der Kamera sind, dass sie nur noch verschwommen vor dem klar konturierten Hintergrund zu sehen sind, betonen dass in Kristinas Gedankenwelt, in der wir zu Gast sind, eine permanente Bewertung des neuen Lebens und der Migration stattfindet. Ab und zu aufkeimende Hoffnung wird dabei oftmals durch idyllische Landschaftsbilder des neuen Zuhauses, Darstellungen des hart arbeitenden Ehemanns oder den Einsatz von Gegenlicht inszeniert, das beispielsweise durch eine Tür in den vollbesetzten Wagon fällt. Mit dem ständigen Wechsel von hoffnungsvollen und grüblerischen Bildern wird betont, wie ungewiss der Ausgang dieses Wagnisses ist.
Die Migration bringt für Kristina die Frage mit sich, welche Werte, Normen und Lebensweisen sie vom Herkunftsland beibehält und welche sie vom Aufnahmeland annimmt. Diese philosophisch anmutenden Fragen werden immer wieder in ruhigen Einstellungen und Szenen von Kristinas Stimme gestellt, jedoch befindet sich das Publikum dabei anscheinend in Kristinas Kopf, denn man sieht sie sie nicht aussprechen. Viele ihrer Fragen, Gedanken und Gefühle spricht Kristina nicht aus, was – unter anderem – ihre Ehe auf eine harte Probe stellt.
Auch wenn es sich bei der Protagonistin um eine erwachsene Frau und Mutter handelt, kommt einem der Begriff Coming-of-Age-Film in den Sinn. Denn nicht umsonst vergleicht der Psychiater Wielant Machleidt die Persönlichkeitsentwicklung, die aus der migrationsbedingten Identitätskrise entsteht, mit der Pubertät. Mit diesem außerfilmischen Wissen lässt sich auch erklären, dass Kristina uns trotz ihres sympathischen Wesens so manches Mal dazu bringt, den Kopf zu schütteln, wenn sie erneut moralische Fehlentscheidungen trifft und sich damit auf Irrwege begibt. Diese Misserfolge resultieren aus der beschränkten Weltsicht, die Kristina aus der Heimat importiert hat. So wundert man sich auch nicht, dass einst gewonnene Einsichten über religiöse Themen und die damit erreichte Toleranz schnell wieder über Bord geworfen werden und an deren Stelle wieder religiös begründeter Hochmut tritt.
Der Film diskutiert außerdem auch die Frage, wieviel Macht der Mensch über sein eigenes Schicksal hat: Dabei vertritt Karl Oskar die Position „God helps those who help themselves“, womit er auch seine Befürwortung der Migration begründet. Kristina jedoch will davon nichts wissen und sich auf den Glauben an Gott verlassen. Kristinas fehlende Bildung rückt erneut in den Fokus als eine Diskussion darüber entbrennt, ob Mädchen die Schule besuchen oder Frauen im späteren Leben einfach ihren Mann fragen sollten, wenn sie etwas wissen möchten. All diese im Film dargestellten Diskurse der damaligen Zeit erfordern eine Positionierung Kristinas. Damit wird veranschaulicht, welch gewaltige Menge an Chancen, aber auch Risiken eine Migration mit sich bringt. Im Falle Kristinas sind diese sogar besonders zahlreich, da sie mit zu den Ersten gehört, die Minnesota besiedeln – natürlich abgesehen von den amerikanischen Ureinwohnern, zu denen es sich ebenfalls zu positionieren gilt.
Kristinas zeitweilige Rückentwicklungen lassen sie sehr menschlich und die Handlung realistisch erscheinen. Die Gedankenfragmente Kristinas, die sich vor allem mit der Migration, aber auch mit den Beziehungsdynamiken beschäftigen, regen durch ihre Zeitlosigkeit zum Nachdenken an. Die Diskurse, die in The Emigrants anklingen, haben auch im Jahr 2022 ihre Aktualität nicht eingebüßt. Insgesamt handelt es sich um einen sehr fesselnden Film, der einen sowohl schonungslosen als auch sensiblen Blick auf die Hürden und Probleme von Emigranten wirft. Dabei bewahrt er eine wunderbare Balance zwischen Tragik und Hoffnung.