Die hier versammelten Kritiken zu den Litfilms-Festivalfilmen sind im Rahmen eines Seminars „Übers Kino schreiben – Theorie und Praxis der Filmkritik“ am Germanistischen Instituts der Universität Münster entstanden. Ziel dieser im Master „Kulturpoetik“ angebotenen Veranstaltung war es, Theorie und Praxis der Filmkritik in einen Dialog zu bringen und Wege in die journalistische Tätigkeit zu eröffnen.
Den thematischen Rahmen bildete dabei der titelgebende Slogan ‚Übers Kino schreiben‘, und das in doppelter Hinsicht: Zum einen schauten wir uns verschiedene theoretische Entwürfe und programmatische Überlegungen im Verlauf der nunmehr 100-jährigen Geschichte der Filmkritik an und versuchten uns unterschiedlichen Verfahren im Umgang mit Filmen anzunähern. Zum anderen grenzten wir das Feld der einbezogenen Beispiele auf solche Filme ein, die Kinosituationen vorführen oder ‚Film-im-Film‘-Strukturen abbilden. Beispiele dieser Art sind vielzählig und bekannt, so etwa Sunset Boulevard (USA 1950), Le Mépris (F 1963), Nickelodeon (USA 1976), La Nuit americaine (F/I 1973), The Purple Rose of Cairo (USA 1985), Last Action Hero (USA 1993), Ed Wood (USA 1994), Inglorious Basterds (USA 2009), The Artist (F 2011) und Once Upon in Hollywood (USA 2019).
So ergaben sich eine doppelläufige Perspektive aus Theorie und Praxis und damit auch die Möglichkeit eines Wechsels zwischen den jeweiligen Perspektiven, stets im Bestreben, den (Spiel-)Film als Leitgattung der Medienkultur kritisch-versiert in den Blick zu nehmen, um gewappnet zu sein für eine Auseinandersetzung mit den Festivalbeiträgen.Die Veranstaltung fand in Kooperation mit dem Filmjournalisten Daniel Kothenschulte (Frankfurter Rundschau) statt; während des Festivals gaben die Studierenden an einem Gesprächsabend im Schlosstheater Einblick in ihre Arbeit. Das Seminar wurde geleitet von PD Dr. Stephan Brössel und Niklas Lotz.
Die Kritiken
Natalia, kurz Nat, arbeitete früher als Simultanübersetzerin, kündigt jedoch schließlich ihren Job, da sie die Leidensgeschichten von Flucht und Vergewaltigung, die sie für Menschen übersetzt, die Asyl suchen, nicht mehr ertragen kann.
Mit diesem Bild werden die Zuschauerinnen im Film konstant konfrontiert: Immer wieder erscheinen Bilder der Vergangenheit, wie Nat die Geschichte einer afrikanischen Geflüchteten übersetzt, oftmals im Kontrast zu ihrem eigenen Leben, das sie nun in einem kleinen Haus auf dem Land im Home Office verbringt.
Bei ihrem kleinen Landhaus handelt es sich allerdings nicht um eine gemütliche kleine Finca. Stattdessen verbringt Nat ihre Tage damit, Wasser in Kübeln aufzufangen, da es sich bei dem sogenannten Haus vielmehr um eine Baracke mit einen undichten Dach, einem tropfenden Wasserhahn und weiteren Problemen handelt. Der Vermieter ist außerdem ein skrupelloser Sexist und Frauenfeind, der sich um nichts kümmert außer Geld von Nat einzutreiben. Angelehnt ist Un amor (2023) an das gleichnamige Buch von Sara Mesa.
Die anderen Dorfbewohnerinnen erscheinen auf den Blick sehr zuvorkommend, allerdings werden Tauschgeschäfte in dem kleinen Dorf großgeschrieben. Dies wird auch Nat sehr deutlich, als eines Abends Andreas, „der Deutsche“, vor ihrer Tür steht und ihr vorschlägt, er könne ihr tropfendes Dach reparieren, sofern er dafür in sie eindringen könne. Schockiert über das Angebot, lehnt Nat sofort ab, fährt allerdings nach einem weiteren Ungewitter letztlich doch zum Haus des Deutschen, um sich auf das unmoralische Angebot einzulassen. Es geht alles sehr schnell: Nat entkleidet sich untenrum und die Zuschauerinnen werden Zeuginnen einer Szene, bei der sich ein großer Mann, der dabei laut wie ein Tier stöhnt, über eine kleine, zierliche Frau hermacht. Nat selbst sieht bei der Szene wie bei einer out-of-body-experience von einem Stuhl aus zu. Der Ton ist gedämpft. Es wird klar: Hier wird eine Vergewaltigungsszene dargestellt. Mit einer emanzipierten Frau, die alleine ihr Leben auf dem Dorf regelt, hat dies nichts zu tun.
Der richtige Plot scheint zu beginnen und mit ihm auch eine verdrehte Liebesbeziehung, die an eine schräge Adaption von Die Schöne und das Biest erinnert. Kurz nach dem Tauschgeschäft, Sex gegen Reparaturen, kehrt Nat nämlich zu ihrem Peiniger zurück, um mit ihm zu schlafen und schließlich eine Affäre zu beginnen. Es scheint, als versuche sie krampfhaft eine Beziehung zu erzwingen, um sich sagen zu können „Ich bin nicht so eine“, sodass sie im weiteren Verlauf des Films sogar eine Obsession mit Andreas entwickelt. Ihre Verrücktheit danach, eine Liebesbeziehung beginnen zu wollen, wirkt wie eine Rechtfertigung für den ersten sexuellen Akt aka die Vergewaltigung. Die Sexszenen werden nun nicht mehr mit Angst inszeniert, sondern mit Zärtlichkeit. Das tierische Geschrei des Deutschen wird jedoch in jedem Fall beibehalten. Nat ist gefangen in einem Netz sexistischer Strukturen und ihr einziger Weg damit zurechtzukommen ist es, sich in Andreas zu verlieben. Man könnte fast von einer Art Stockholm-Syndrom sprechen.
Der Film zeigt vor allem die Affäre zwischen der anhänglichen Nat, die möchte, das Andreas sich öffnet und dem kalten, gefühllosen Deutschen. Das Ganze endet damit, dass Nat das Dorf aufgrund ihres schrecklichen Vermieters, der gescheiterten Affäre und der toxischen Dorfbewohnerinnen verlässt und dies mit einem kathartischen Tanz feiert, zu dem ihr totgeglaubter Hund auch plötzlich erscheint. Am Ende bleiben fragen offen: Ist der Hund eine Illusion? Handelt es sich um einen Suizid und die beiden treffen sich im Jenseits wieder? Warum ist Nat nicht schon viel früher gegangen?
Die Story ist schleppend. Der Film entwickelt sich langsam und die Szenen sind oft ähnlich. Es wird das Gefühl vermittelt, die Zeit bleibe fast stehen. Vielleicht soll mit diesem Stilmittel das Leben auf dem Land nachgeahmt werden, für die Zuschauerinnen allerdings, ergibt sich eher ein Effekt von einem langatmigen Plot, der überwunden werden muss, um an ein eher enttäuschendes und vor allem unglaubwürdiges Ende zu gelangen. Die Story hat großes Potenzial kritisch eine derartige Art von Beziehung zu hinterfragen und zu beleuchten sowie gesellschaftskritische Aspekte hinsichtlich der Dorfbewohnerinnen aufzuwerfen. Und vielleicht tut er das auch ein bisschen, indem die Zuschauerinnen dabei zusehen können, wie eine junge Frau von ihrer patriarchalischen Umwelt zermürbt wird. Das volle Potenzial ist allerdings keineswegs ausgeschöpft.
Weshalb sich für die schräge Version von Die Schöne und das Biest entschieden wurde, ist weiterhin fragwürdig. Vielleicht soll hierdurch tatsächlich die Verbindung zum Stockholm Syndrom aufgezeigt werden? Was jedoch unanfechtbar ist, ist die Chemie der beiden Schauspieler*innen: Andreas (Hovik Keuchkerian) und Natalia (Laia Costa). Obwohl der Anfang ihrer Beziehung abstoßend ist, schaffen es die beiden vor der Kamera eine besondere Anziehung spüren zu lassen. Sie zeigen eine unfassbare Zärtlichkeit miteinander auf der einen Seite, sind auf der anderen jedoch kein Liebespaar und lassen diese Distanz und Unabhängigkeit stets als stillen Begleiter im Raum stehen. Die beiden werfen mit ihrer schauspielerischen Leistung und ihrer Beziehung die Frage auf: Ist das Liebe? Hiermit wird demnach eine perfekte Verbindung zum Titel hergestellt. Auch später wird diese Frage nochmals von zentraler Bedeutung, wenn Nat in ihre Obsession verfällt und sich die Frage auftut: Ist das Liebe oder lediglich ein verzweifelter Versuch sein Gesicht zu wahren? Anstatt also die sexistischen Dorfstrukturen zu kritisieren, wirkt der Film fast wie eine Kritik „so eine zu sein“. Un amor hat Potenzial, nicht zuletzt aufgrund der schauspielerischen Leistung, der beiden tragenden Rollen, schießt allerdings an dem was sein könnte vorbei.
Rauschen. Wellen brechen tief unten am Felsgestein, Möwen kreischen, Wind streift durch das hohe Gras oben auf den Klippen. Dort ruht Moses Sweetland zwischen den Gräsern. „Wer kann es nur besser haben?“ fragt sich der in die Jahre gekommene Mann und blickt aufs Meer hinaus. Fein verwebte melancholische Klänge untermalen die sanfte Einblendung des Filmtitels vor dem Hintergrund einer kleinen Küstensiedlung und ihrer schroffen Umgebung – als sei es nicht nur der Name des Protagonisten: SWEETLAND. Beeindruckend ruhig inszeniert Regisseur Christian Sparkes eine Literaturverfilmung, in der Mensch und beheimatete Landschaft eine kantige Einheit bilden.
Moses Sweetland (Mark Lewis Jones) hat sein ganzes Leben – abgesehen von einer kurzen Zeit in Toronto, als er „zu jung war, um es besser zu wissen“ – in einem kleinen, weitabgelegenen neufundländischen Küstenort verbracht, ist tief verwurzelt mit dem Land, das seit Generationen von seiner Familie bewohnt wurde. Hier lebt und arbeitet er im Einklang mit sich und den rauen Gegebenheiten, arrangiert sich mit den Neuerungen des 21. Jahrhunderts; hier plauscht er mit Queenie, die sich fragt, warum er sie nie geheiratet hat, hier kümmert er sich um Jesse, den „sonderbaren“ Sohn seiner Nichte Clara, fährt mit ihm auf die Klippen und aufs Meer hinaus, und hier liegt sein Bruder begraben, der vor vielen Jahren bei einem tragischen Unfall ums Leben kam. Selbst 100.000 Dollar finanzielle Unterstützung können Moses nicht dazu bringen, seine Heimat zu verlassen, wie es das Umsiedlungsprogramm der kanadischen Regierung für die gesamte Ortsgemeinschaft vorsieht. Stattdessen will er – in den Worten des Regierungsbeauftragten – „lieber hierbleiben mit den Toten“. Doch unvorhergesehene Ereignisse zwingen Moses zu handeln und konfrontieren ihn mit der unerbittlichen Zeitlosigkeit der ihm vertrauten Felsen und Wellen.
Basierend auf dem gleichnamigen, 2014 veröffentlichten Roman des ebenfalls aus Neufundland stammenden Autors Michael Crummey stellt SWEETLAND nicht nur einen menschlichen, sondern auch einen geographischen Protagonisten in den Mittelpunkt der Erzählung. Wie bereits in seinem Langfilmdebut CAST NO SHADOW (2014) und auch kürzlich im Mystery-Thriller THE KING TIDE (2023) setzt Regisseur Sparkes die einzigartige Landschaft seiner kanadischen Heimatprovinz in Szene. In SWEETLAND macht er sie gekonnt zum Abbild figürlicher Innerlichkeit, das als literarisches Stilmittel unwillkürlich an die wilde Heidelandschaft Yorkshires aus den Romanen der Brontë-Schwestern erinnert. Das gedeckte, dunkle Farbspektrum, die schmerzlich-atmosphärische Musik aus der Feder des kanadischen Komponisten Andrew Staniland zusammen mit den nach vorne gemischten Hintergrundgeräuschen, sowie das behutsame Erzähltempo unterstreichen die beinahe mystisch-bedrohliche Kraft des Ortes und seiner unbezwingbaren Elemente, die starke Verbindung zwischen Landschaft und den dort lebenden Menschen. Sie dient vor allem als Speicher der Vergangenheit, als aus der Zeit gelöste Präsenz und Moses stetige Erinnerung an das, was und vor allem wer einmal war. Tragische Vorkommnisse erhalten eine beinahe (und in diesem Punkt durchaus kritisch zu hinterfragende) schicksalhafte Dimension, wenn die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen und der Griff um die Wirklichkeit sanft entgleitet.
Dennoch plätschert der Film nicht so dahin; Moses raues, bodenständiges Auftreten und seine unerschütterliche Beharrlichkeit, überzeugend gespielt von Mark Lewis Jones, gemeinsam mit dem manchmal auch etwas dunklem Humor in der Interaktion mit seinen Mitmenschen setzen einen wichtigen Kontrapunkt zur melancholischen Atmosphäre. Die nicht ausführlich thematisierten, aber durchaus präsenten Auseinandersetzungen mit Neurodiversität sowie psychischer Gesundheit verleihen SWEETLAND notwendige Tiefe und zusätzliche Aktualität und Relevanz. Denn letztendlich ist es das Innere, das für Moses eng verwoben ist mit dem rauschenden Wind auf den Klippen und den Wellen am Felsgestein: die im Filmtitel zusammengeführte Einheit von Mensch und Landschaft.
Es war ein heißer Sommer, in dem die kindliche Unbeschwertheit der jungen Eva (Rosa Merchant) ein abruptes Ende fand. Jahre später kehrt sie als erwachsene Frau (Charlotte de Bruyne) in ihre Heimatstadt zurück, um sich den Schatten ihrer Vergangenheit zu stellen. Der Debütfilm „When It Melts“ (2023) von Veerle Baetens nimmt uns mit auf eine eindrucksvolle Zeitreise, die in zwei Erzählsträngen von den prägenden Erlebnissen während Evas Adoleszenz erzählt. Bereits zu Beginn wird deutlich, dass etwas Schlimmes passiert sein muss – ein dunkles Geheimnis, das langsam enthüllt wird. Baetens spielt mit Andeutungen und lässt die Zuschauenden bis zum Schluss in einer Art Ungewissheit, bei der man sich allerdings schon fragen muss, ob das dem Film zuträglich ist.
So sind manche Symboliken etwas plakativ, wie etwa das mysteriöse Fragerätsel der Freundesgruppe, bei dem ein Mann in einem leeren Raum von der Decke hängt und unter ihm nur eine rätselhafte Wasserpfütze liegt. Den anderen Kindern ist die Antwort auf dieses Fragerätsel lange unklar, den Zuschauenden wird sie hingegen direkt vor die Nase gelegt. Etwa wenn man später die erwachsene Eva dabei beobachtet, wie sie einen riesigen Eisblock durch den Winter schleift – eine Anspielung, die auch im Zusammenhang mit dem Filmtitel fast schon zu offensichtlich erscheint. Trotz dieser überdeutlichen Metaphern entwickelt der Film jedoch eine authentische emotionale Ebene, die über solche inszenatorischen Schwächen hinwegträgt.
Denn „When It Melts“ bietet weit mehr als seine konstruiert wirkende Wendung. Die wahre Stärke des Films liegt in den eindrucksvollen Momenten, die den Alltag der jungen Eva einfangen – zwischen einer alkoholkranken Mutter, einem emotional abgewandten Vater, dem Schmerz der Ausgrenzung durch Gleichaltrige und ihrem verzweifelten Versuch, ihren Platz in der Welt zu finden. Diese Szenen sind feinfühlig inszeniert und verleihen der Erzählung eine starke emotionale Tiefe, die nachhaltig beeindruckt. Besonders hervorzuheben ist die herausragende schauspielerische Leistung von Rosa Merchant, die Eva in ihrer verletzlichen Kindheit glaubhaft verkörpert.
Der Film wagt es, ein schmerzliches, nahezu unerträgliches Thema aufzugreifen und schreckt dabei nicht davor zurück, die grausame Wahrheit in all ihrer Unverblümtheit zu zeigen. Das mag für einige Zuschauende schwer zu verkraften sein, doch gerade diese schonungslose Ehrlichkeit gibt dem Film seine große emotionale Wucht. Trotz der kleineren Schwächen in der Symbolik bleibt „When It Melts“ ein intensives, eindringliches Werk, das lange nachhallt und den Zuschauenden mit einem Gefühl der Betroffenheit zurücklässt.
Die Liebe und das Biest
Ein menschenleerer Club irgendwo im Paris des Jahres 2044. Roy Orbinson blieb vom Zahn der Zeit verschont, noch immer läuft seine Rock-Schnulze „Evergreen“. Zumindest für den flüchtigen Moment eines Tanzes können Gabrielle (Léa Seydoux) und Louis (George MacKay) einander nah sein, sich den Körpern hingeben, ehe ihre immergrüne Liebe auf ewig abblüht. Manchmal ist es einfacher, am Ende anzufangen. Wenn die Hoffnung auf die so oft beschworene, eine Liebe in einem einzigen Schrei verklingt.
Von der essentiellen Einsamkeit seines Lebens schreibt Henry James in einem Brief an den amerikanischen Journalisten und engen Freund Morton Fullerton. Die Novelle The Beast in the Jungle, unstreitig eine der exzellentesten Erzählungen aus der Feder von James, wird in der Literaturkritik mitunter als Lippenbekenntnis des Schriftstellers interpretiert, der nie verheiratet war und den die sexuelle Liebe, laut dem Biografen F.W. Dupee, zeitlebens ängstigte. Besagtes Biest der Geschichte ist eine böse Vorahnung, dass etwas schreckliches passieren muss, das aber nie eintritt; ein verwirktes Leben aus Angst vor dem Schicksal, ein Leben in Einsamkeit statt Liebe. Ein nicht geliebtes Leben.
Nun kommt man nicht umher die besondere Prägnanz dieses Stoffs für unsere Gegenwart zu bemerken, in der die Hedonismusobsession von einer empfundenen Machtlosigkeit im Angesicht globaler Konflikte und Krisen konterkariert wird. Und so lauerte das Biest im Jahr 2023 in gleich zweierlei Gestalt auf den großen Filmfestivals in Berlin und Venedig. Erst ließ der Österreicher Patric Chiha im Panorama der 73. Berlinale mit La Bête dans la jungle die Jahrzehnte im schildernden Reigen durch einen Nachtclub an den Menschen vorbeitanzen, die in ihrem Warten auf das mysteriöse Monster aber nie in der Zeit, nie im Moment leben und ohne die sich die Erde weiterdreht. Auf der 80. Mostra in Venedig wiederum sprach der französische Regisseur Bertrand Bonello von der Angst vor der Liebe, die nicht nur seinen Filmadaption La Bête, sondern den Menschen überhaupt präge.
Amor fati
La Bête schildert von der Zukunft als KI-Regime, welches den Gefühlen der Menschen zur Steigerung der Produktivität den Garaus machen will. Wer also einen guten Platz in der Gesellschaft einnehmen möchte, unterzieht sich einer Prozedur: Die Menschen werden in ihre vergangenen Leben zurückversetzt, um die DNA so von alten Traumata und Affekten zu „bereinigen“. Der Mensch wird angepasst, und das von seines eigenen Geistes Kind. La Bête könnte in dieser erzählerischen Anlage durchaus eine dystopische Parabel auf politische Säuberung in einer Technokratie sein, doch geht es dem Film um etwas weitaus Fundamentaleres: Die Frage, was den Menschen zum Menschen macht.
Die Antwort in La Bête ist dabei eindeutig, ja melodramatisch: Menschlichkeit ist Emotionalität. Aufnahmen, die Léa Seydoux beim Schauspiel in einer Green-Box zeigen, scheinen als Erinnerung, dass es hier um den Menschen an sich geht, um die Fähigkeit zu fühlen sowie diese Gefühle auszudrücken – und daraus Kunst zu erschaffen. Die Angst vor dem möglichen Verlust dieser Fähigkeit wiederum zehrt Gabrielle im Film. Und das scheint berechtigt, denn mit der DNA-Reinigung flacht die Intensität der Emotionen ab. Die Menschen verfallen einem futuristischen Stoizismus, der ihre Gefühlswelt kompromittiert, und sind so nicht länger von den Androiden zu unterscheiden, die ob ihrer Gefälligkeit auch „Puppen“ genannt werden.
La Bête lässt Gabrielle und Louis durch die Jahrhunderte nacheinander sehnen, führt beide immer wieder schicksalhaft zusammen, um sie vom Schicksal betrügen zu lassen. So begegnen sie sich 2044 im DNA-Reinigungscenter, treffen sich in einer Pariser Salongesellschaft des Jahres 1910, finden sich ebenso 2014 in Los Angeles wieder – einer Stadt, in der Sexbesessenheit mit unfreiwilligen Zölibatären konfligiert und Schauspieler, Models, Oberflächlichkeit auf den bestialischen Speiseplan lockt. Immer wieder wird das Schicksal der beiden symbolisch auf die Menschheitsgeschichte als eine Menschheitsbedrohung übersetzt, beispielsweise auf das historische Seine-Hochwasser 1910 oder ein Erdbeben.
Filmästhetisch windet sich La Bête dabei vom Liebesgeplänkel der Bourgeoisie in Manier des Kostümfilms zum alptraumhaften Voyeurismus ganz im Zeichen des Kinos David Lynchs (Videoaufnahmen à la Lost Highway, Clubszenen wie aus Blue Velvet). Der Film liefert ein eigenes Sinnbild für diesen überbordenden Genre- und Stilmix in einer einzelnen Einstellung: Meldungen über tödliche Unruhen, die Homepage einer Beautyklinik und Pop-ups einer Wahrsagerin auf Gabrielles Laptopbildschirm, während eine Mädchenpuppe unheimlich aus dem Hintergrund in Richtung der Kamera starrt. George MacKay, der die Rolle an Gaspard Ulliels statt übernahm, und insbesondere Léa Seydoux manövrieren mit vortrefflicher Finesse, der immensen Kraft jedes einzelnen Augenschlags durch dieses aparte Wechselbad, das ihnen eine ganze Palette verschiedener Personae und Emotionen abverlangt.
In Liebe, die Kunst
Fand Liebe je besseren Ausdruck, war sie je schöner als in der Kunst? Bertrand Bonello konfrontiert Gabrielle stets mit der Musik, inszeniert ihre Akribie als Pianistin gar als Suche nach dem Gefühl der komplexesten Kompositionen. Doch muss dieses Gefühl für sie in der Sphäre der Kunst verbleiben, als eine schmerzvolle Erinnerung an das, was diese Zukunft nicht mehr hergibt. „Evergreen“ ist eben nur noch der Song, nicht länger die Liebe.
In der Zukunft des Biests kippt die Emphase in leidenschaftslose Abstinenz. Gleich mehrfach findet Puccinis Oper Madame Butterfly Erwähnung in La Bête. Gabrielle und Louis besuchen Aufführungen in Neapel und Paris, nennen das Stück ein „ewiges Drama des Verlusts“. Die tragische Erzählung einer aufgrund äußerer Umstände unerwiderten Liebe selbst legt sich wie eine Folie über den Film, insinuiert eine gewisse Inkompatibilität der Glaubenssätze und Menschenbilder im hier projizierten 2044.
Wenn La Bête auf die Kunst zurückkommt, dann mit einem bitteren Beigeschmack: Sie zeigt nicht Liebe, sondern verlorene Liebe. Und das Credo gilt für den Film. In den elektrisierenden Momenten, in denen sich Gabrielle und Louis beinahe körperlich nah sein können, macht der Film selbst sie unmöglich. Das filmische Material bricht ein, das Bild verläuft, ruckelt. Er ist nicht mehr imstande Intimität darzustellen und die bloße Andeutung sich berührender Lippen genug, um den fatalistischen Weiterlauf des Filmes, der die Figuren unweigerlich ihrem Schicksal zuführt, zumindest für einige wenige Sekunden zu unterbrechen. Nicht einmal mehr der Abspann schafft es in den Film, er ist lediglich mit einem QR-Code abrufbar – und lässt den letzten schmerzlichen Schrei scheinbar unendlich fortwähren. Wo Kunst seit jeher die Liebe hochhielt, verdrängt sie sie in dieser Zukunftsvision von La Bête. Und das ist die vielleicht bedrückendste Vorahnung, die Bertrand Bonello hegt: Nicht einmal mehr die Kunst wird es vermögen uns zu retten.
KALAK – die Bezeichnung für eine echten, aber auch schmutzigen Grönländer ist die selbstgewünschte Bezeichnung der Wahl für Jan. Von seinem Vater in seiner Kindheit sexuell missbraucht, flieht er vor jenem und seiner Vergangenheit aus Kopenhagen nach Grönland und versucht sich zwischen rauer Natur und eigensinnigen, aber auch herzlichen Menschen ein Leben aufzubauen. Diese Bemühungen sind jedoch zum Scheitern verurteilt: Jan verliert sich immer mehr in selbstzerstörerischem Verhalten und übernimmt, ähnlich wie sein Vater, weder Verantwortung für sich selbst noch für die Schäden, die er in seiner Umgebung anrichtet. Rücksichtsloses Verhalten versucht er einmal schwach über das ihm angetane Unrecht zu erklären, wirkt dabei aber auf seine Sexualpartnerin der Wahl durchaus unglaubwürdig, insbesondere, da auch der Zuschauer weiß, dass er sich nicht mit den augenscheinlichen Auswirkungen, die dieses Trauma auf ihn hat, beschäftigen will. Im Verlauf des Films wird der oberflächlich sympathisch scheinende Protagonist so tatsächlich immer dreckiger und rücksichtsloser, wobei schleierhaft ist, wie genau er sich in die grönländische Gesellschaft einfügt, abgesehen davon, dass er zahlreiche sexuelle Affären mit Frauen eingeht, die er ohne Rücksicht auf Verluste oder Familienkonstellationen, inklusive seiner eigenen, solange auslebt, bis ihm nicht mehr danach ist. Diese Beziehungen enden dabei ebenso abrupt, wie sie beginnen, wobei die emotional involvierten Frauen mit einem „Verpiss dich!“ abgespeist werden.
Die ausbleibende Auseinandersetzung mit den traumatischen Erlebnissen schmerzt das Publikum im Verlauf des zweistündigen Films dabei zunehmend, insbesondere, da es direkt in den ersten Minuten des Films selbst Zeuge des Missbrauchs wird. So viel auf der Handlungsebene passiert, so wenig wird mit filmischen Mitteln gearbeitet. Die Kamera fängt mit einer Beiläufigkeit und Nüchternheit die Geschehnisse ein, die nicht so recht zu den teils schockierenden Ereignissen des Films passen wollen. Auch mit Ton wird kaum gearbeitet. Auffallend prägnant wird lediglich der Gegensatz des Nachtlebens inszeniert: Warmes Licht, Musik und laute fröhliche Stimmen werden wiederholt Jans Wohnblock in kaltem Licht und Stille gegenübergestellt, wobei nicht ganz klar ist, ob diese wertenden Gegensätze nicht vielmehr eine Projektion des Inneren des Protagonisten abbilden und nicht die Realität. Von außen betrachtet scheint das beständig Gute im Leben des Protagonisten eben genau bei seiner Familie und vor allem bei seiner Frau zu liegen. Obwohl sie weiß, dass ihr Mann sie betrügt, sorgt sie für die wenigen heiteren Momente des Films.
Besonders beeindruckend ist indes die Darstellung des Vaters Ole, gespielt von Soren Hellerup, die es schafft, den Zuschauer ebenso mit Ekel wie mit einem unterschwelligen Gefühl der Bedrohung zu erfüllen, jedes Mal, wenn er auf dem Screen zu Wort kommt und er sich dabei als Täter keiner Schuld bewusst ist. Jan, gespielt von Emil Johnson, zeigt sich gerade im Vergleich seltsam entrückt von allem. Diese Entrücktheit überträgt sich dabei auf den Zuschauer und den gesamten Film, was es erschwert, eindrückliche Botschaften zu extrahieren. Nur beiläufig gestreift werden die historischen Spannungen zwischen Dänemark und Grönland – hier verschenkt der Film Potenziale. Auch die vom Protagonisten so krampfhaft angestrebte Auseinandersetzung mit der grönländischen Kultur fruchtet nicht und kommt vor allem nicht beim Zuschauer an. Ausflüge in die Natur werden zum Familienstillleben, ohne dass die Protagonisten oder die Kamera eine eindrückliche Beziehung zu ihr aufzubauen scheinen. Sequenzen, in denen die Familie in die kulturellen Bräuche eingeführt wird, enden allzu oft in sexuellen Affären Jans, als dass man das Gefühl haben könnte, die ernsthafte kulturelle Auseinandersetzung sei hier das Ziel. Potenziale hat die Auseinandersetzung Jans und seiner Tochter mit der grönländischen Sprache, insbesondere im Vergleich mit dem Dänischen, doch auch diese rückt angesichts der Vielzahl an Handlungselementen und Tragödien, die der Film nüchtern aneinanderreiht, schnell wieder in Vergessenheit.
Am Ende bleibt der Zuschauer bedrückt und zutiefst unbefriedigt zurück, nachdem er zwei Stunden lang mit so vielen schockierenden inhaltlichen Wendungen konfrontiert wurde, dass er diese nicht mehr ordnen kann. Die Frage, was der Film im Nachklang hinterlässt, lässt sich wohl am besten mit Unwohlsein beantworten. Wer durch einen Film eine sinnstiftende Auflösung von Problemstrukturen erwartet, für den ist KALAK nicht zu empfehlen. Für denjenigen, der sich gerne mal gezielt, in den Grenzen der Leinwand, mit der ganzen Sinnlosigkeit der Welt auseinandersetzt und bereit ist, das mulmige Gefühl im Magen auch ein, zwei Tage später noch auszuhalten, wird KALAK dagegen vielleicht genau das Richtige sein.